Mit dem Obstkorb, den Sneakers und dem Tischkicker ist es manchmal wie mit der Regenbogenflagge vor dem Unternehmenssitz: Es genügt nicht, es einfach zu haben, um der „best workplace“ zu sein. Vereinbarkeit muss gelebt werden. Es ist also eine Frage der Einstellung – und damit der Unternehmenskultur.
Doch wie wird aus Work-Life-Blending eine echte Vereinbarkeit von Job und Privatem? Wie schaffe ich ein Umdenken ohne Vorurteile in der Belegschaft? Während sich Personalabteilungen bei den Bemühungen um das Recruiting der Generation Y und Z überschlagen, bleiben Anstrengungen, eine „alte“ Belegschaft zu halten, meist aus. Um was es hier geht? Um eine Vereinbarkeit für alle.
Wir alle haben etwas zu vereinbaren
Vereinbarkeit ist mittlerweile ein harter Standort- und Wettbewerbsfaktor für Unternehmen. Jede:r Arbeitnehmer:in kommt mindestens drei bis vier Mal in seinem Leben in die Situation, dass Vereinbarkeit relevant und wichtig wird. Als junge:r Berufseinsteiger:in in der Vereinbarkeit mit Hobbys, Freunden und Freizeit. Später dann, wenn sich die Karriere festigt, kommt der Wunsch nach Familie und danach, mit ihr Zeit zu verbringen. Ein paar Jahre später folgt der Wunsch und/oder die Notwendigkeit der Vereinbarkeit mit der Pflege von Angehörigen. Kurz vor dem Renteneintritt dann ist es das Ziel, den Lebensabend zu genießen. Vereinbarkeit betrifft also jeden von uns, ob Senior Director, Young Professional, frischgebackene Eltern, Teil- oder Vollzeitkraft.
Familienbewusstsein lohnt sich für alle
Ursprünglich betraf Vereinbarkeit als weiches Nischenthema oft nur Frauen, insbesondere Mütter. Spätestens mit dem Wandel des Familien- und klassischen Rollenbildes wurde (an-)erkannt, dass Vereinbarkeit in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Unternehmen suchen qualifizierte Mitarbeiter:innen und diese wiederum nach Arbeitsplätzen, die erfüllend sind und sich individuell mit Privatem vereinbaren lassen. Davon profitieren nicht nur Arbeitnehmer:innen. Sich auf einen Strategiewandel ein- und sich damit als familienbewusste:r Arbeitgeber:in aufzustellen, lohnt sich für beide Seiten.
Vereinbarkeit hat viele Facetten
Fachkräfte gewinnen und langfristig binden: Familienfreundlichkeit ist mittlerweile ein harter Standort- und Wettbewerbsfaktor. Dass es dabei nur um Mütter und Väter mit kleinen Kindern geht, ist allerdings ein Trugschluss. Die meisten Arbeitnehmer:innen, die in Deutschland einen Angehörigen pflegen, sind ebenfalls gleichzeitig erwerbstätig und gefordert, mehrere Bälle in der Luft zu halten. Und auch beim Fachkräftenachwuchs nehmen lebensphasenorientierte Angebote und Maßnahmen inzwischen einen hohen Stellenwert bei ihrer Bewerbung ein.
Daran zeigt sich deutlich, dass sich Familienfreundlichkeit bzw. die passgenaue Vereinbarkeit für jede:n Einzelne:n rechnet und der Nutzen das Investment deutlich übersteigt. Die Vorteile für Unternehmen liegen auf der Hand: Bessere Gewinnung von Fachkräften, eine geringere Mitarbeiterfluktuation, weniger Fehlzeiten durch reduzierten Krankenstand und verkürzte Elternzeiten, ein besseres Betriebsklima mit erhöhter Motivation, Einsatzbereitschaft und Produktivität. Besonders Unternehmen in strukturschwachen und ländlichen Regionen kämpfen mit der Abwanderung von Fachkräften. Durch eine lebensphasenorientierte Personalpolitik können sie sich als attraktive:r Arbeitgeber:in mit einfachem Justieren von Stellschrauben im Wettbewerb positionieren.
Es gibt noch viel zu tun
Viele Firmen unterstützen ihre Mitarbeiter:innen bereits mit Maßnahmen zur Vereinbarkeit. Dennoch ist der Bedarf an zum eigenen Leben passenden Arbeitsbedingungen nach wie vor hoch. Arbeitnehmer:innen haben hier klare Erwartungen. Ganz oben auf der Liste stehen flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, ortsunabhängig zu arbeiten. Die Erwartungen beider Seiten klaffen aber oft weit auseinander, denn flexibel heißt nicht immer auch passend: Gerade Beschäftigte mit kleinen Kindern sind darauf angewiesen, dass ihre Arbeitszeiten zwar flexibel, aber auch planbar und verlässlich gestaltet sind.
Diversität und Inklusion sind im Zusammenhang mit Vereinbarkeit ebenfalls weitere wichtige Unternehmenswerte, die zwar zunehmend Beachtung finden, allerdings noch kaum sichtbar gelebt werden. Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren noch viel mehr mit Themen wie Altersdiversität, mit pflegenden Angehörigen in der Arbeitswelt oder dem hybriden Führen auseinandersetzen müssen. Nicht erst, wenn die Bewerbungen ganz ausbleiben, ist Handlungsbedarf geboten, sondern schon jetzt!
Fantastische Führungskräfte, die Unmögliches möglich machen
Entscheidend und maßgeblich relevant für ein funktionierendes Vereinbarkeitskonstrukt im Unternehmen sind außerdem die Führungskräfte. Hochqualifizierte Fachkräfte bewerben sich bei Arbeitgeber:innen(-marken), kündigen aber häufig wegen der direkten Chefs. Fehlende emotionale Intelligenz in der Führung und eine Diskrepanz zur Vereinbarkeit von Privatem sind derzeit die Hauptkündigungsgründe für Mitarbeiter:innen. Vorbild zu sein, eine empathische Führung und eine (vor-)gelebte Vereinbarkeit sind die Hebel, um den „War of Talents“ zu gewinnen – auf allen Ebenen der Führung. Auch hier geht die Rechnung leicht auf: Kündigungen kosten viel Geld und übersteigen ein Investment in die emotionalen Skills von Führungskräften um ein Vielfaches.
Vereinbarkeit ist also auch – und vor allem auf lange Sicht gesehen – rentabel.
The biggest Fails – Was ich als Arbeitgeber:in falsch machen kann.
1. Mitarbeiter:innen verlassen nicht ihre Unternehmen, sie verlassen ihre Chefs
Was es braucht ist eine empathische Führung. Eine Führung, deren Ziel nicht Umsatz und Gewinn ist, sondern die/ den Mitarbeiter:in als Mensch ins Zentrum stellt und selbst Vorbild und Gestalter ist. Eine Führungskraft, die Vereinbarkeit vorlebt (Führung in Teilzeit, offener Umgang mit Pflege eines/-r Angehörigen, Familienvater etc.), wird eine offenere Vereinbarkeitskultur im Team schaffen.
Wir brauchen neue Führungsstile dringender denn je. Leader müssen ihre Mitarbeiter:innen befähigen, motiviert arbeiten zu können. Weniger fachlich, mehr sozial und empathisch – aber vor allem authentisch!
2. Diversity-Bias und Stereotypen
Wir alle haben immer wieder Vorurteile und blinde Flecken. Gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung, gegenüber Menschen im Alter, gegenüber Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der eigenen. Gegenüber Männern, gegenüber Frauen. Schubladen zu schließen fällt uns oft schwer. „Eine Teilzeitmutti will sowieso nur vormittags arbeiten“, „Der ist doch nur faul oder wieso geht der jeden Donnerstag um halb vier?“ oder „Die Jungen wollen doch eh nur Party machen.“ sind kognitive Verzerrungen, die ich in Unternehmen reintrage und viel zu selten hinterfrage. Jede:r Unternehmer:in, jede:r Führungskraft sollte sich aber fragen: Wieso hat diese:r Mitarbeiter:in dieses Bedürfnis?
3. Viele Generationen unter einem Dach
Alte weiße Männer wollen keine moderne Arbeitskultur – sie sind die Blocker einer modernen Arbeitskultur. Ist das wirklich so?
In einem Unternehmen kommen mehrere Generationen zusammen: Die Gen Z, die Millenials, die Golf-Generation und die Baby Boomer. Das ist zwar herausfordernd, aber auch eine Chance. Nicht alles Gestrige ist schlecht. Nicht alles Neue ein Hype. Alle Generationen haben unterschiedliche Vorstellungen von Arbeit, Freizeit oder Führung und alle Generationen haben unterschiedliche Schwächen und Stärken. Die Älteren bringen die meiste Erfahrung mit, können Mentoren sein. Die jungen Rebellen sind fachlich oft extrem gut und wissenshungrig. Altersvielfalt ist nachweislich ein Wettbewerbsvorteil und (alters-)gemischte Teams erzielen schnellere, bessere Ergebnisse. So, do it!
4. Nachhaltige personalpolitische Ziele in den Werten verankern
83% der Arbeitnehmer:innen sind im Job nicht engagiert. Das ergab eine Studie von Gallup. Man stelle sich vor, wir hätten derart schlechte Werte in der Kundenzufriedenheit! Man würde doch sofort handeln, oder?
Wirtschaftliche und kundenorientierte Ziele stehen in den meisten Unternehmen immer noch über den personalpolitischen Zielen – und das, obwohl motivierte Mitarbeiter:innen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie sich ein Unternehmen wirtschaftlich entwickelt. Daher: Mitarbeiter:innenziele in die Unternehmenswerte! Was bringt Professionalität ohne Mitarbeiter:innen? Was bringt/ schafft Kunden- und Dienstleistungsorientiertheit ohne Mitarbeiter:innenzufriedenheit oder Vereinbarkeit?
5. Vereinbarkeit betrifft nicht nur Mütter
Der Trugschluss: Vereinbarkeit betrifft nur die Working-Moms.
Aber was ist mit den Teilzeitvätern, den Workation-Lovers, den Profifußballer:innen oder den pflegenden Angehörigen? Vereinbarkeit betrifft jeden von uns – auch den/die Chef:in!
Finally – die Lösung
Wie wird also aus Vereinbarkeit mehr als nur ein Buzzword? Wie profitieren Unternehmen davon? Welche Stellschrauben müssen Unternehmen drehen? Wo ist die Rolle eines/r Vereinbarkeitsbeauftragten am besten verankert? Wie zeitgemäß ist es, sich mit Vereinbarkeit und Diversität zu beschäftigen? Diese Fragen werden uns in den kommenden Jahren immer mehr umtreiben. Allgemeingültige Antworten auf die entstehenden Fragen und eine Standardlösung gibt es nicht. Jedes Unternehmen muss auch im Hinblick auf seine Unternehmenskultur und die betrieblichen Erfordernisse und Rahmenbedingungen seinen ganz eigenen Weg dafür finden.
Was aber immer gilt: Echtes Engagement, eine klare Mitarbeiter:innen-Strategie bzw. nachhaltige Personalpolitik nach innen und außen machen den Unterschied. Egal welches Geschlecht, welches Alter, welche familiären Konstellationen, welche Vereinbarkeiten, welche Lebensphase, welche ethnische, nationale und soziale Herkunft, welche sexuelle Orientierung, welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten, welche Religion oder Weltanschauung. Mit einer diversen Belegschaft ist Vereinbarkeit für alle erreichbar.
#vereinbarkeitfüralle
Über die Autorin:
Katrin Dzimiera wurde 1985 geboren. Als schwäbisch-badische Südtirolerin absolvierte sie ihr Studium der Kunst- und Kulturwissenschaften und Management u.a. an den Universitäten Heidelberg und Karlsruhe. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie im Marketing, Projektmanagement und Business Development in der IT-Branche. Ab 2013 übernahm sie dabei Verantwortung als Führungskraft im Beratungsfeld rund um die digitale Transformation und New Work.
Parallel dazu engagiert sie sich in verschiedenen Netzwerken ehrenamtlich, um Vereinbarkeit in der Arbeitswelt sichtbarer zu machen. Ihr Herzensthema ist dabei die Situation pflegender Eltern.
Deshalb gründete sie 2021 als Vereinbarkeitsmanagerin und People Culture Managerin (IHK) cocowork, eine strategische Unternehmensberatung mit dem Fokus Vereinbarkeit von Karriere und Privatleben und lebensphasenbewussten Personalpolitik als sozial nachhaltiger Faktor in der Arbeitgeberattraktivität.